Theoriekrise: Kasper Hornbæk auf der Mensch und Computer 2024 in Karlsruhe 1.-4. September 2024

Die Mensch und Computer ist eine Konferenz zum Thema Mensch-Computer-Interaktion (MCI oder englisch HCI), als Berufsfeld heißt das User Experience (UX). Auf der Konferenz treffen sich Wissenschaftlerïnnen und Praktikerïnnen aus diesem Bereich oder mit Interesse an diesem Bereich. Ich war dieses Jahr als neuer Forscher in der HCI und Sozioinformatik das erste Mal dabei und konnte einiges über das Feld und die Kultur im Feld lernen – das meiste davon diese kleinen Kulturschock-Momente, die schwer zu berichten sind. Insgesamt habe ich mich aber sehr wohl gefühlt unter meinen neuen Kollegïnnen, die stärker praktisch, technisch und designerisch orientiert sind als meine anderen aus der Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaft oder der Kunstgeschichte.

In der ersten Keynote diagnostizierte Kasper Hornbæk eine “Theoriekrise”, was für meine Position im Fach vielversprechend war. Ich kann natürlich nichts über Krisen in einem Fach sagen, das mir fremd ist und in dem ich mich gerade einfinde und es steht mir auch nicht zu, den Theoriegebrauch in der HCI zu bewerten. Ich bilde mir nicht ein, sagen zu können, was die anderen in diesem Fach gut oder schlecht machen oder was sie besser machen sollten. Was mir liegt und was nicht und was andere besser oder schlechter können als ich ist das einzige, was ich von meinem Standpunkt aus grob einschätzen kann. Davon abgesehen: Die Aussage war nicht bloß, dass es eine Theoriekrise in der HCI gäbe, Hornbæk hat auch erklärt, wo genau er die Probleme sieht und Vorschläge gemacht, wie es besser geht. Davon gebe ich ein wenig wieder, ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ich möchte mich nur daran erinnern können, was ich jetzt gerade noch gut erinnern kann. Das soll gefiltert sein, deswegen schaue ich dabei nicht in meine Notizen.

Es gibt “wegwerf-Zitate”, ein Problem, das mir auch schon mal aufgefallen ist: Zitate, in denen eine Quelle allgemein und unspezifisch aufgerufen wird, mit einer vagen Handbewegung und nach dem Motto “also, da steht auch was zu dem Thema”. Ich würde das gar nicht an die HCI richten sondern allgemein; Solche Zitate gibt es überall in der Wissenschaft, wo Leute wenig Zeit haben – vor allem, bei denen, die sich so etwas leisten können. Hornbæks Aufruf war, Zitate detaillierter zu machen, zu erklären, was tatsächlich wichtig für den eigenen Text ist – und nicht nur das; Es sei auch wichtig, die zitierte Theorie dann auch zu benutzen, indem der Text erklärt, was genau an der Theorie übernommen wird, wie das in die eigene Arbeit eingegangen ist und was genau an der eigenen Arbeit der verwendeten Theorie entspricht. Das heißt dann auch, diese Impulse in den anderen Abschnitten wieder aufzugreifen und vor allem in der Diskussion der Ergebnisse zu erklären, wie die Theorie und die eigene Arbeit miteinander in Beziehung stehen – und zwar spezifisch, und nicht mit einem allgemeinen “…wurden inspiriert von…”.

Diese Hinweise sind einerseits gut für mich, weil ich in diesen Dingen meines Erachtens nach gut bin – und wenn andere im Feld der HCI dort Schwächen in kauf nehmen, bedeutet das, dass ich dem Feld etwas bieten kann mit meinem Fähigkeitsprofil.

Andere haben den Vortrag kritisiert – besonders der Vorschlag, statt eines Abschnittes mit dem Titel “Implications for Design” auch mal “Implications for Theory” in Aufsätzen zu schreiben traf auf Kritik. Ich fand, das war eine charmante Provokation. Andere haben sich aber sogar darüber lustig gemacht, auch Leute, die den Vortrag gar nicht gehört haben. Manche Teile des Vortrags habe ich aber scheinbar nicht mitbekommen. Manche seiner Lösungsvorschläge scheinen nicht so toll gewesen sein – jemand erzählte mir, Hornbæk hätte quantitative Methoden als Lösung vorgeschlagen. Das habe ich nicht gehört; Vielleicht war ich schon ein bisschen Müde, vielleicht habe ich gerade nach meinen E-Mails geschaut oder vielleicht habe ich einfach alles ausgefiltert, was mir nicht gefallen hat und nur die Ohren gespitzt, wenn ich was gut fand.

Den Aufruf, sich detailliert mit Theorie auseinander zu setzen und darauf zu achten, dass die verschiedenen Abschnitte eines Textes aufeinander Bezug nehmen, finde ich extrem wichtig. Auch sich zu trauen, mal Theorie zu bilden, weiter zu entwickeln oder empirisch zu testen, finde ich gut. Am meisten vermisse ich häufig Theoriearbeit “in der Mitte”: Viele benutzen hochfliegende Theorien, die die ganze Gesellschaft und die Welt erklären (nichts dagegen), und tun nicht viel mehr damit, als sie zu nennen. Andere (und mehr Leute) beschreiben sehr detailliert und abstrahieren kaum von einzelnen Phänomenen. Die Interessante Frage ist: Wie hängen die Phänomene, die ich beschreibe, mit den allgemeinen Strukturen der Welt, Kultur und Gesellschaft zusammen? Was passiert zwischen Theorie und Phänomen? Damit lassen sich Phänomene besser erklären und Theorien verbessern.

Ergänzung 25. September 2024:

Hornbæk hat seine Folien mit zusätzlichen Informationen auf LinkedIn bereit gestellt: https://www.linkedin.com/posts/khornbaek_keynoteslides-activity-7236319998992908288-q-hG

Kritik an Hornbæk habe ich inzwischen auch gehört: Mehrere Personen merkten an, das Theorie ihrer Meinung nach nicht das zentrale Problem für die Weiterentwicklung der HCI ist. Das kann ich schwer beurteilen, kann mir aber vorstellen, dass es so ist. Nun heißt ein besserer Umgang mit Theorie ja nicht, dass nichts anderes gemacht wird.

Ich denke, ein großes Problem für die Kritik ist, dass für Theorie sehr wenig Platz ist. Wie ein erfahrener Wissenschaftler in anderem Zusammenhang sagte, braucht es dafür Bücher – wenn alle versuchen, CHI-Paper zu schreiben, die kürzer als Bücher sind und in denen die Empirie und das Design zählt, ist schlicht kein Platz für gute Theorie. Ein Ansatz wären reine Theorie-Paper, aber ich weiß nicht, wie so etwas in der HCI ankommen würde.

Manche haben sich an dem Vorschlag aufgehängt, einen Abschnitt “Implications for Theory”, angelehnt an die verbreiteten “Implications for Design” in Paper aufzunehmen. Ich denke, so etwas kann im Einzelfall Sinn ergeben, habe das aber auch vor allem als Provokation verstanden.

In einem Post auf LinkedIn habe ich die Meinung gelesen, dass Theorie in der HCI, gerade bei Empirie oder in Design-Problemen nicht immer relevant ist. Das mag mehr oder minder stimmen. Wir haben allerdings immer irgendeine Theorie, ein Modell davon, wie die Welt funktioniert und welchen Sinn und Effekt das hat, was wir gerade tun. Ich finde nicht, dass Theorie hinzu gefügt werden sollte, sondern dass sie explizit gemacht werden muss. Der Post vermutete, dass Theorie oft verwendet wird, um den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu erwecken und um Prestige zu erheischen. Auch das mag stimmen – aber meiner Meinung nach ist Wissenschaft ohne gute Theorieanwendung tatsächlich nur der Anschein von Wissenschaftlichkeit. Arbeitsteilung ist aber notwendig – nicht jede und jeder muss Theorie in gleichem Maße anwenden, aber eine wissenschaftliche Disziplin ohne Theoriegebrauch ist ein Widerspruch in sich.

Hornbæk bemerkte außerdem, dass “Interaktion” als zentraler Begriff des Feldes sehr unscharf ist. Das ist für mich der Ansatzpunkt für meine eigene stärkste Kritik: Ich denke, das wird mit zentralen Begriffen immer so sein. Ich sehe die Rolle theoretischer Reflexion nicht darin, Begriffe übergreifend festzulegen, sondern durch lokale Begriffsarbeit den eigenen Standpunkt im Wissenssystem deutlich zu machen. So kann dann der Gültigkeitsraum der eigenen Erkenntnisse erkennbar werden.


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